Heinz Höhne
Kastanienweg 3
22927 Großhansdorf

09.11.1998

An die
Neue Zürcher Zeitung
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Sehr geehrte Redaktion,

als langjähriger Leser Ihres geschätzten Blattes habe ich mich gefragt, was Sie wohl veranlaßt haben mag, einen so fragwürdigen Artikel wie den von Vincent C. Frank über den Judenpogrom vom 9.11.1938 abzudrucken (NZZ vom 4.November).Er widerspricht so allem Niveau, das gemeinhin auch Ihre zeitgeschichtlichen Beiträge auszeichnet.

Da stimmt so mancherlei nicht: Das Reichssicherheitshauptamt, das den Novemberpogrom der Nazis "koordiniert" haben soll, gab es 1938 noch nicht, auch keine "Sicherheitspolizei der SS", die immerhin trotz ihrer Führung durch SS Funktionäre ein Bestandteil des Staatsapparats blieb. Der ermordete Ernst vom Rath wurde nachträglich nicht zum Botschaftssekretär, sondern zum Gesandtschaftsrat I. Klasse befördert. Sein Begräbnis erfolgte in Düsseldorf, nicht in Berlin, und Hitler hat dabei auch keine Rede gehalten. Karl Brandt war nicht der Leibarzt Hitlers, sondern einer von mehreren Begleitärzten, der traditionelle Kameradschaftsabend der Altnazis am 9.11.fand nicht im Münchner Hotel "Vier Jahreszeiten" statt, wohl aber im Alten Rathaus.

In diesem Stil geht es in dem NZZ Artikel unentwegt weiter. Nehmen wir den Attentäter Grynszpan. Er hieß natürlich Herschel, nicht Hermann. Er feuerte auf Rath vier, nicht fünf Schüsse ab. Es war kein SS Trupp, der ihn 1940 in Toulouse aufstöberte, sondern die Kundt Kommission des Auswärtigen Amtes bei ihrer Inspektion von Gefängnissen und Interniertenlagern im unbesetzten Frankreich. Sein Nachkriegsschicksal ist beileibe nicht "unbekannt", und wir brauchen auch kein "hartnäckiges Gerücht", um es aufzuklären: Grynszpan wurde 1945 aus Frankreich ausgewiesen, lebte aber illegal als Tankstellenwart unter anderem Namen in einem Pariser Vorort weiter und hielt sich Ende 1960 während des Soltikow/Rath Prozesses in Deutschland auf.

All diese Ungereimtheiten könnte man noch notfalls hinnehmen, würde die Kernthese Franks, die Annahme einer monatelangen Vorbereitung des Novemberpogroms durch die SS, wenigstens einen Hauch von Plausibilität besitzen. Doch sie tut es mitnichten. Dagegen sprechen schon allein die bekannten Indizien und Zeugenaussagen, die darin übereinstimmen, daß SS und Polizei von der im Schoße der Partei und SA ausgeheckten und mit einem Kopfnicken Hitlers in Gang gesetzten "Judenaktion" völlig Überrascht wurden. Himmler und Heydrich waren nahezu die letzten der damals in München versammelten NS Machtträger, die von der bereits laufenden Terrorkampagne gegen Deutschlands Juden erfuhren, was erklärt, warum so manche der von ihnen in dieser Nacht des 9./10.November 1938 veranlaßten Maßnahmen den Stempel hastiger Improvisation trugen.

Das gilt vor allem für die Verhaftung der Juden. Wahllos wurden Tausende jüdischer Menschen, darunter Kinder und Greise, zusammengetrieben und in die drei Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt, die kaum in der Lage waren, die neuen Häftlinge einzukleiden, zu ernähren und unterzubringen. Die unsägliche Brutalität ihres "Empfangs" in den Lagern, das oft stunden , ja tagelange Warten bei Sturm und Regen vor den KZ Toren verrieten auf ihre Weise, wie sehr Himmlers verrohte Handlanger durch den Massenandrang der jüdischen "Zugänge" Überfordert waren. Kein Wunder, daß der Sanitätschef der SS am 30.November klagte, durch die Aktion seien die KZ "derart überbelegt, daß es ans Unerträgliche grenzt, und selbst Heydrich der Gestapo einschärfen mußte, keine weiteren Häftlinge zu liefern.

Aber die angeblich vor dem Novemberpogrom erweiterten KZ, die von Kripo und Gestapo sorgfältig vorbereiteten Verhaftungslisten, auf die Ihr Autor so sehr abhebt? Sie sind Phantasie wie das ganze RSHA des Jahres 1938.Der Ausbau der drei KZ wurde erst im Dezember 1938 in Angriff genommen, und selbst die berühmten 5000 Dachauer Drillichgarnituren mit dem Davidstern, von dem der Weihbischof Neuhäusler erzählt, werden den KZ Schergen wenig genutzt haben, denn in ihr Lager wurden nicht 5000 Juden eingeliefert, sondern doppelt so viele: fast 13 000.

Mit freundlichen Grüßen

Heinz Höhne


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